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Im Anfang war die Berührung

Dr. Martin Tauss

DIE FURCHE Redakteur

"In diese Welt sind wir hineingeworfen wie ein Hund ohne Knochen (...), Reiter auf dem Sturm". Man muss nicht unbedingt die düstere Weltsicht teilen, die der späte, vom Alkohol gezeichnete Jim Morrison auf dem letzten Album der Popgruppe "The Doors" (1971) zum Besten gab. Faktum aber ist, dass es um einiges härter wird, sobald wir den wohlig-warmen Mutterleib verlassen und in diese Welt "hineingeworfen" werden: Wie unzulänglich muss sie im Vergleich zur pränatalen Symbiose erscheinen! Psychoanalytiker deuten die Sehnsucht nach dem schwebenden Zustand im Uterus als eigentlichen Ursprung aller Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit, als verborgene Quelle der Vorstellungen von einem verlorenen Paradies oder einer längst verflossenen "Goldenen Zeit".
Nach der Entbindung muss Bindung neu hergestellt werden. Berührung hilft, über das verlorene Paradies hinwegzukommen. Sie vermittelt fortan Halt, Sicherheit und Geborgenheit -sofern wir das Glück haben, unter günstigen Bedingungen aufzuwachsen.

Geschichte der Affekte
Unter den fünf Sinnen entwickelt sich zuerst der haptische. Bereits ab der fünften Schwangerschaftswoche kann der Embryo die Umwelt über seine Lippen erspüren -eine Fähigkeit, die sich allmählich über den ganzen Körper ausdehnt. Nach der Geburt ist es zunächst der Tastsinn, der die Beziehung zur Welt vermittelt. Als Neugeborene lernen wir unsere Körpergrenzen primär durch die Berührung der Eltern kennen, und auf dieser Basis vermag sich ein erstes Selbstbewusstsein auszubilden. Kürzlich haben amerikanische Forscher festgestellt, dass die ersten Berührungserfahrungen einen nachhaltigen Effekt auf die sensorische Entwicklung haben: Im Fachjournal Current Biology berichten sie, wie wichtig es für Frühgeborene ist, positiv erlebte Berührungen zu erhalten, damit ihr Gehirn auch später in vollem Umfang für diese Reize empfänglich bleibt.
Das Bedürfnis der Babys nach Hautkontakt ist ebenso grundlegend wie ihr Bedürfnis nach Schlaf oder Nahrung. Als Frédérick Leboyer in den 1970er-Jahren nach Indien reiste, beobachtete er dort Mütter, die ihre Babys auch auf der Straße massierten. Sie beruhigten ihre Kinder, indem sie mit kräftigen Griffen über deren Körper strichen. Es sah aus, als würden sie Teig kneten. Der französische Frauenarzt war überzeugt, dass die Kleinsten dadurch Urvertrauen gewinnen, und begann, die traditionelle Kunst der indischen Baby-Massage in der westlichen Welt zu verbreiten. Der Methode werden viele positive Effekte nachgesagt: Die kindliche Verdauung, aber auch das Bonding und die Resilienz sollen dadurch gestärkt werden.
Dass es sinnvoll sein kann, unser ganzes Leben im Hinblick auf so etwas Basales wie die Berührung zu beleuchten, zeigt eine finnische Studie, die nun erstmals "Berührungsbiografien" ausgewertet hat. Erfasst wurden Berichte von Menschen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund, die darüber schreiben, wie sie andere berührt haben, von anderen berührt wurden, welche Erfahrungen sie damit gemacht haben und wie sie diesbezüglich sozialisiert worden sind. Die Geschichte der Berührung korreliert mit der Geschichte der Affekte, also der verkörperten Emotionen in sozialen Beziehungen: Sie ist niemals nur individuell, sondern erstreckt sich über mehrere Generationen hinweg, wie die Forscher erläutern: Kollektive Traumen etwa infolge von Kriegen haben hier auch noch jüngere Generationen heimgesucht, selbst wenn mittlerweile bereits andere Berührungsgewohnheiten aufgekommen sind.
So dominierte bis in die 1950er-Jahre ein strenges Ideal der Kinderbetreuung, in dem für zärtliche Berührung kaum Platz vorgesehen war. Viele Eltern dachten, dass Babys nach einem strikten Zeitplan gefüttert werden müssten und ihr Schreien zu ignorieren sei."Viele ältere Teilnehmer unserer Studie berichteten von affektiver Kälte und einem Mangel an Berührung", so Taina Kinnunen von der Universität Ostfinnland. Andere Teilnehmer hingegen verbanden Berührung primär mit Nähe, Liebe, Umsicht und einer "warmen Energie". In ihren Biografien waren diese Erfahrungen als lebenslang verfügbare Ressource abgespeichert. Eine dritte Gruppe assoziierte Berührung mit traumatischen Erfahrungen wie Gewalt oder Demütigung. "Aufgrund der vielfältigen Lebenserfahrungen können ähnliche Arten der Berührung affektiv sehr unterschiedlich abgespeichert werden", resümiert Kinnunen. "Andererseits können einprägsame Berührungen das affektive Repertoire einer Person transformieren. So kann sogar der Eindruck entstehen, dass eine fürsorgliche Geste tatsächlich lebensrettend ist."
Im Körper gibt es viele Botenstoffe, die positive Berührung mit einem Belohnungseffekt versehen: etwa das "Kuschelhormon" Oxytocin, das für das Bindungsverhalten bei Paaren sowie Eltern und Kindern eine zentrale Rolle spielt, oder die Endorphine, die für die körpereigene Schmerzhemmung wichtig sind. Schon allein die tröstliche Berührung einer nahestehenden Person ist schmerzlindernd: Das erfahren bereits Kleinkinder, die sich weh getan haben. "Soziale Schmerzberuhigung" nennt dies der Journalist Harro Albrecht in seinem monumentalen Buch "Schmerz"(Pattloch, 2015):"Offenbar hat die Evolution den Menschen mit den Schmerzsensoren in der Haut einen 'Tröstmechanismus' installiert, der aktiviert wird, wenn wir uns physisch sanft umeinander kümmern."
Vertrauen und Empathie sind die Voraussetzungen für das Wohlbefinden, das diese Botenstoffe im Körper bewirken. Ist der enge Körperkontakt hingegen unerwünscht, führt er zu Irritation und Unbehagen -dann werden Stresshormone ausgeschüttet. Um die positiven Effekte von Berührung auszuschöpfen, ist somit ein angemessenes und taktvolles Nähe- Distanz-Verhältnis wesentlich.

Seelische Schwingungen
Die heilsamen Wirkungen der Berührung sind übrigens auch für Mensch-Tier-Beziehungen bezeugt. "Kumpantiere" wie Hund oder Katze sind effektive Stresspuffer, indem sie das Beruhigungs-und Belohnungssystem im Gehirn aktivieren. Das zeigt sich in der Senkung von Stresshormonen, des Blutdrucks oder der Herzfrequenz. "Der ausreichende Kontakt zu Beziehungstieren, insbesondere Hunden, fördert die emotionale, soziale, körperliche und geistige Entwicklung von Kindern", so der Biologe Kurt Kotrschal in seinem Buch "Hund &Mensch"(Brandstätter, 2016). Der konkrete Kitt dieser Beziehung ist die Berührung, aus der eine positive Bindung erwächst. (Mit einem Haustier, lieber Jim Morrison, werden wir am Ende doch nicht "ohne Knochen" sein!)
Doch der Mensch ist nicht nur ein biologisches Wesen, und Berührung ist nicht nur ein körperliches Phänomen. Wenn wir davon sprechen, dass uns "etwas berührt", stehen emotionale und geistige Vorgänge im Vordergrund. Berührung hat dann eher die Qualität von Musik: Etwas spricht uns an, löst Schwingungen aus im Resonanzraum der Seele -zum Beispiel ein Mensch, eine Situation oder ein Kunstwerk. Ergriffenheit ist die Übersteigerung dieses Gefühls. Die Fähigkeit, sich berühren und ergreifen zu lassen, ist ein Ausdruck tiefer Lebendigkeit: Wir sind in innigem Kontakt mit dem Leben und erlauben den vitalen Energien, auf uns "zuzugreifen".
In der hektischen Aufmerksamkeitsökonomie ist diese Fähigkeit bedroht. Die Logik der Reizüberflutung verhindert tendenziell, dass unsere Sinnesorgane und ihre Objekte wirklich in Berührung kommen: Zu oberflächlich bleibt oft der Kontakt. Unberührtheit in diesem Sinn neigt zur Dissoziation; dem sterilen Gefühl, vom Fluss des Lebens abgeschnitten zu sein. Höchste Zeit also, bewusst für Berührungspunkte zu sorgen."

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